Wie ich zu mehr Luft kam Die Thematik mit dem Atem beschäftigt mich seit ich ein kleines Kind bin. Ich hatte, seit ich denken kann, immer eine verstopfte Nase, konnte fast ausschliesslich durch den Mund atmen, schnarchte in der Nacht und hatte Schlafapnoe (das sind kurzfristige Atemstillstände während des Schlafens). Im Teenageralter entwickelten sich Asthma und verschiedene Allergien, welche mir das Atmen noch schwieriger machten. Irgendwann, Mitte zwanzig, habe ich meine Nase und die Nebenhöhlen operiert und seither weiss ich, dass man auch durch die Nase atmen kann. Ein krasses und erleichterndes Erlebnis. Das Asthma und die Allergien blieben, aber das nahm ich so hin. Ende zwanzig bin ich viel gelaufen und geschwommen und habe dabei bemerkt, dass es mir auf sonderbare Weise besser ging, wenn ich Ausdauersportarten betrieb. Es war nicht das grundsätzlich gute Gefühl nach Sport, es war etwas anderes. Ich wurde ruhiger. Diese innere Ausgeglichenheit habe ich auch wieder in der Yogapraxis bemerkt und gleichzeitig, dass sich mein Atem verändert hatte. Er wurde länger. In meiner Yogaausbildung und auch danach habe ich mich intensiv mit dem Atem auseinandergesetzt, weil ich verstehen wollte, weshalb mich der Atem so massgeblich beeinflusste. Und da passierte genau das, was bei top down Prozessen immer passiert. Plötzlich sieht man die Dinge aus einem anderen Blickwinkel und sie werden greifbarer. Man versteht sie wirklich. Im Folgenden möchte ich zusammenfassen, was mich in meiner Erkenntnis in Bezug auf das Atmen fasziniert und bewegt hat. Die Zusammenfassung ist in keiner Weise abschliessend, es ist mein Blick auf ein riesiges Feld von Ergebnissen aus der Wissenschaft und Erfahrungsberichten. Evolution ist nicht unbedingt Fortschritt, sondern einfach Veränderung Die Kopfform der Menschen hat sich im Verlauf der Evolution stark verändert. Das Kauen von Wurzeln und Fleisch erforderte starke Kiefermuskeln und verbrauchte viel Energie. Mit der Zeit haben die Menschen begonnen ihr Essen weicher zu klopfen und später auch zu kochen. Durch das Einsparen von Energie, konnte unser Gehirn wachsen und brauchte mehr Platz. Es nahm sich diesen im vorderen Teil unseres Kopfes und dadurch wurden unsere Nebenhöhlen, Atemwege und Mundbereiche kleiner. Wir mussten nicht mehr richtig kauen und unser Kieferknochen und -muskeln haben sich über die Jahre zurückgebildet. Unsere Köpfe wurden länger und im Mund gab es plötzlich nicht mehr genug Platz für 32 Zähne. Die Folge davon waren schiefe Zähne und verengte Atemräume. Das Atmen wurde schwieriger. Nun kann man sich fragen, weshalb wir heute als einziges Säugetier eine Atempraxis brauchen. Die Antwort ist einfach: Durch oben genannte Gründe haben wir erschwerte Atembedingungen und deshalb sind wir die einzigen, die durch den Mund atmen. Unsere Lunge mag trockene, kalte und ungefilterte Luft nicht. Die Nase ist dafür zuständig die Luft zu befeuchten, zu erwärmen und zu filtern. Ausserdem reichern die Nasennebenhöhlen die Atemluft mit Stickstoffmonoxid (NO) an. NO ist ein gasförmiges Signalmolekül des Herz-Kreislaufsystems, welches zur Übertragung von Informationen innerhalb des Organismus dient. Neben vielen anderen Vorteilen, hilft NO die Atemluft zu sterilisieren und hilft so Atemwegsinfektionen zu reduzieren. Es weitet die Gefässe in den Lungen und erleichtert das Atmen. Von diesen Prozessen profitieren wir nur, wenn wir durch die Nase atmen. 40% der Menschen leiden unter chronisch verstopfter Nase. Die Folge von Mundatmung sind verengte Kiefer, schiefe Zähne und Atemwege, die immer enger werden. Gerade Asthmatiker leiden häufig nicht nur unter verengten unteren Atemwegen, sondern auch der obere Teil, die Nase, ist in der Regel verstopft. Das sind die Folgen von Überatmung. Verstopfte Nasen sind der Versuch des Körpers, mehr Kohlendioxid (CO2) zurückzuhalten. Leider funktioniert dies nicht, weil die meisten auf den Mund ausweichen, was das Problem nur verschlimmert. Würden wir versuchen, die Nase frei zu machen und danach konsequent durch die Nase zu atmen, würde das Atmen durch die Nase wieder besser funktionieren. Kohlendioxid und Training Damit Sauerstoff in unseren Zellen aufgenommen werden kann, brauchen wir eine gewisse Menge an Kohlendioxid (CO2) im Körper. Je höher die Konzentration an CO2 im Körper ist, desto besser geben die roten Blutkörperchen den Sauerstoff ab (der so genannte Bohr-Effekt). Ohne die nötige Menge an CO2 im Blut, verengen sich die Blutgefässe und das Hämoglobin wird bei seiner Sauerstoffabgabe ins Blut behindert. Hämoglobin ist ein Proteinkomplex, welcher den Sauerstoff an das rote Blutkörperchen bindet. Nun können wir unseren Körper darauf trainieren mit einer höheren CO2 Konzentration im Körper umgehen zu können und profitieren so von einer besseren Sauerstoffversorgung im ganzen Körper. Das ist auch der Grund, weshalb ich zum Beispiel unseren CrossFit Athletinnen und Athleten empfehle, im Warm Up nur durch die Nase zu atmen. Durch die höhere Konzentration an CO2 im Körper (mit dem Mund würden wir mehr Kohlendioxid ausatmen), werden die Muskeln besser mit Sauerstoff versorgt und optimal auf das Training vorbereitet. Die Lungen weiten sich und die Bronchien werden besser durchblutet. Es mag jeder Intuition widersprechen: Indem wir dem Drang nachgeben, mit dem Mund zu atmen und somit mehr Atemluft einzuatmen und auszuatmen, verschlechtern wir die Sauerstoffversorgung im Körper. Unser Atemverhalten stellt das Atemzentrum auf eine bestimmte CO2 – Toleranz ein. Es ist unsere Konzentration an CO2 im Körper, welche unseren Atem antreibt. So zum Beispiel ist es beim Joggen nicht ein Mangel an Sauerstoff, der den Atem antreibt, sondern das zusätzlich anfallende CO2. Sind wir über längere Zeit in der Überatmung, zum Beispiel infolge von anhaltendem Stress, atmen wir kontinuierlich mehr CO2 ab, als im Stoffwechsel anfällt. Unser Atemzentrum richtet sich auf diese niedrigen Werte ein, speichert sie und reagiert mit verstärktem Atemantrieb. Das Atemvolumen verstärkt sich auf diese Weise und wird schliesslich auch dauerhaft verändert. Mit dem neuen, verstärkten Atemmuster, verändert sich unser pH-Wert im Körper ins Alkalische und die Abgabe von Sauerstoff an Zellen, Gewebe und Organe wird dauerhaft erschwert. Die richtige Atmung hängt also von der richtigen Menge an Kohlendioxid ab und führt dazu, dass die richtige Menge Kohlendioxid in der Lunge bleibt. Unter chronischer Überatmung versteht man einfach die Gewohnheit, ein Luftvolumen zu atmen, das den Bedarf des Körpers übersteigt. Unsere CO2-Toleranz im Körper ist trainierbar. Wir können durch Atemübungen den Körper darauf konditionieren mit mehr CO2 auszukommen und somit von verbesserter Durchblutung zu profitieren. Der Nasenzyklus Alle 30 Minuten bis 4 Stunden, verändert sich die Dominanz des einatmenden Nasenlochs. Das hat seinen Grund: Der Atemstrom durch die beiden Nasenlöcher ruft verschiedene Funktionen in unserem Körper auf. Zu dieser Erkenntnis kamen deutsche Wissenschaftler im Jahre 1895. Das Atmen durch das rechte Nasenloch erhöht den Blutdruck und die Herzfrequenz und stimuliert die linke Gehirnhälfte, die für die logischen Denkprozesse steht. Das Atmen durch das linke Nasenloch hingegen, beruhigt uns, senkt den Blutdruck und die Herzfrequenz und die rechte Gehirnhälfte (Sprache, Bilder, Kreativität) wird aktiviert. So gleicht der Nasenzyklus, ohne dass wir etwas dafür tun müssen, unseren Körper und Geist aus. Das passiert nur, wenn wir durch die Nase atmen. Richtiges Atmen Wir sind eine Gesellschaft von Überatmern geworden. Heutzutage ist es normal, dass wir in der Minute zwischen 12 bis 20 Mal atmen (das kann man an sich selber ohne viel Aufwand testen). Optimal wären hingegen 6 Atemzüge pro Minute, mit einer etwas längeren Ausatmung (z.B.: 4 ein, 6 aus). Die Botschaft ist also: Atme weniger, langsamer und tiefer. Tiefer nicht im Sinn von mehr Volumen atmen, sondern lokal, in den Bereich oberhalb des Bauchnabels, so dass sich die Bauchdecke hebt und senkt (die Brust hebt sich nicht beim Atmen!) Auf diese Art und Weise arbeitet unser Zwerchfell und die volle Kapazität unserer Lunge wird eingesetzt. James Nestor beschreibt das in seinem Buch «Breath» mit folgenden Worten: “Breathe through your nose, slowly, rhythmically, lightly into the stomach Calm your body down, take control of the nervous system.” Wir haben mit dem bewussten Atmen direkten Einfluss auf unser parasympathisches Nervensystem. Der Vagusnerv wird durch die verlangsamte Atmung stimuliert, unsere Herzfrequenz und der Blutdruck sinken, wodurch sich der Körper um Verdauung und Regeneration kümmern kann. Haben wir Stress und atmen zu viel, befindet sich unser Körper im andauernden Kampf-oder-Flucht-Modus: Das sympathische Nervensystem wird aktiviert, Stresshormone werden ins Blut gepumpt und wir atmen zu viel CO2 aus. Dadurch werden unsere Zellen mit zu wenig mit Sauerstoff versorgt. Ist das chronisch der Fall, entwickeln sich Symptome, Beschwerden und schliesslich Krankheiten. Entwickeln wir längerfristig ein gesundes Atemmuster, können wir auch in der Nacht besser schlafen und erholen uns besser. Wir sollten darauf achten, dass der Mund beim Schlafen geschlossen bleibt*. Ich persönlich bin überzeugt davon, dass es sich lohnt dem Atem mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Von 25 000 Atemzügen pro Tag, sollten ein paar bewusste dabei sein. Setzte dich also täglich für 5- 10 Minuten hin, suche einen bequemen Sitz, der deine Wirbelsäule lang werden lässt. Lasse die Schultern sinken und die Schlüsselbeine weit werden. Lege eine Hand auf den Brustkorb, die andere auf den Bereich oberhalb deines Bauchnabels. Atme durch die Nase ein mit langen und leisen Atemzügen, und spüre die Atembewegung in der unteren Hand. Dabei bewegt sich die Brust kaum. Entspanne dich in die Ausatmung hinein und lasse die Einatmung von selber kommen. Wenn das gut klappt mit der Zwerchfellatmung, lege die Hände in den Schoss und atme weiter. “To breathe is to absorb ourselves in what surrounds us, to take in little bits of life, understand them, and give pieces of us back out. Respiration is, at its core, reciprocation.” James Nestor: Breath. Penguin Books 2020 *Myotape (www.myotape.com) ist eine Möglichkeit den Mund in der Nach zu verschliessen (das gibt es schon für Kinder ab 4 Jahren!). Mir persönlich hat diese Methode geholfen auch in der Nach durch die Nase zu atmen. Quellen: Literatur: Nestor, James: Breath. Penguin Books 2020 McKeown, Patrick: Erfolgsfaktor Sauerstoff. Riva Verlag 2018 Skuban, Ralph: Die Buteyko Methode. Crotona Verlag 2020 Sendungen: Einstein SRF 20. Januar 2022: Besser Atmen gegen Stress Podcasts (Spotify): BBC News.The Documentary: The lost art of breathing James Nestor: The Art and Science of Breathing The Avid Reader Show: Breath |